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Arnold Schönberg

Benjamin Britten (1913-1976)

 

Arnold Schönberg (1874-1951)

Streichquartett op. 30 (1927)

Es gibt kaum einen zweiten Komponisten neben Schönberg, dessen Produktion so viele musikalische Wandlungen erlebt hat. Schönbergs Streichquartette stehen an herausragenden Positionen seiner stilgeschichtlichen Entwicklung. Vor seinem dritten Streichquartett hatte Schönberg schon zwei Quartette komponiert, die in ihrer Art einzigartig waren: Das große, weit ausladende, die Viersätzigkeit in einen musikalischen Ablauf bannende und die Tonalität an die Grenzen ihrer Kenntlichkeit führende d-moll-Quartett op. 7 und das, die Tür in die Atonalität schließlich öffnende Quartett op. 10 fis-moll bei dem in den letzten zwei Sätzen die Singstimme hinzutritt. Wie Schönberg mit den ersten beiden Quartetten musikalische Grenzbereiche so sehr erweiterte, daß er sie zugleich durchbrach, so durchbricht das dritte Streichquartett die Grenzen einer musikalischen Technik, die er in den Jahren zuvor entwickelte und die unter dem Namen „Zwölftontechnik“ bekannt geworden ist. Nach einer Gruppe von sehr strengen, herzlos klingenden Stücken - Adorno bezeichnete diese Stücke einmal als „Bauhausmusik“ -, die auf musikalische Formen aus der Barockzeit zurückgreifen (Klaviersuite op. 25 und Suite für Klavier, drei Streicher und drei Bläser op. 29), anderen, die polemisch gemeint waren (Chöre op. 27 und 28), und nach dem Versuch die Sonatenform ohne die Mittel der Tonalität zu rekonstruieren (Bläserquintett op. 26), ist das dritte Streichquartett seine erste neue Komposition, die die Mittel und Techniken der Zwölftontechnik vergessen macht. Es ist das erste Stück, das souverän und frei der Mittel und Techniken sich bedient ohne sie als Zweck zu setzen. Pointiert gesagt: Das dritte Streichquartett ist trotz der Verwendung von Zwölftontechnik entstanden.

Der den Schönbergkreis seit 1925 ständig kritisch begleitende Musikkritiker, Philosoph und Komponist Theodor W. Adorno war sehr beeindruckt von der Aufführung des dritten Quartetts, die er 1929 in Frankfurt mit dem Kolisch-Quartett erlebte. Er schrieb: Dieses Streichquartett sei „von einer Gewalt, die den Hörenden den Atem verschlug: vollends erhellte Musik". An anderer Stelle heißt es, das Quartett sei „ein mächtiges Werk, unerbittlich und unangreifbar wie keine Kammermusik seit 1827, von niederzwingender Gewalt. ... dämonisch erfüllte(s) Gefüge der Konstruktion.“ Hier sind Zwölftontechnik und Ausdruck zusammengekommen, haben sich gegenseitig bemächtigt. Dies allein ist der Grund dafür, daß es sich hier nicht lohnt, etwas über die Zwölftontechnik auszuführen. Es ist nicht das Verdikt, welches Schönberg selbst gesetzt hat indem er sich dagegen verwahrte, die Erkenntnis einer Komposition mit der Aufdeckung ihrer Reihendisposition gleichzusetzen, da solche Analysen „ja doch nur zu dem führen, was ich immer bekämpft habe: zur Erkenntnis, wie es gemacht ist; während ich immer erkennen geholfen habe: was es ist! ... Ich kann es nicht oft genug sagen: meine Werke sind Zwölfton-Kompositionen, nicht Zwölfton-Kompositionen ...“ (Schönberg an Rudolf Kolisch, Brief vom 27.7.1932, in: A. Schönberg: Ausgewählte Briefe, hg. von Erwin Stein, Mainz 1958, S. 179)

Schönberg selbst hat einmal plastisch geschildert, welche drastischen Vorstellungen ihm beim Denken an den ersten Satz des dritten Quartetts begleiteten: „Als kleiner Junge quälte mich ein Bild, das die Szene aus dem Märchen 'Das Gespensterschiff' darstellt, in der der Kapitän von seiner Mannschaft an den Topmast durch den Kopf angenagelt wird. Sicher ist dies nicht das Programm des ersten Satzes des Dritten Streichquartetts. Aber es mag unterbewußt eine sehr grausame Vorahnung gewesen sein, die mich veranlaßte dies Werk zu schreiben - so oft ich über diesen Satz nachdachte, erinnerte ich mich an dieses Bild. Ich fürchte, ein Psychologe könnte diese Geschichte als einen Anlaß zu vorschnellen Schlüssen verwenden. Da sie lediglich einen Anhaltspunkt zu dem gefühlsmäßigen Hintergrund des Satzes gibt, kann sie keine Strukturaufklärung liefern.“ (A. Schönberg: Analyse des dritten und vierten Streichquartetts)

Es läßt sich gar nicht überhören, dieses stupide, penetrierende, nichtendenwollende Hämmern oder Pochen der Staccato-Achtel in den Nebenstimmen. Selbst dort, wo es noch in der gemäßigten gebundenen Form auftaucht, bleibt der Gestus erhalten. Es ist eben ein Stück, das fast durchgehend auf emotionaler Hochspannung gehalten wird. Zu dieser grundlegenden manifesten Ausdrucksgestalt des Stücks gesellt sich eine zweite, latente, die musikalisch formende Substanz: Im Prinzip handelt es sich um einen leicht modifizierten Sonatensatz, bei dem in der Reprise Haupt- und Seitensatz vertauscht werden, so daß eine Bogenform entsteht. So kongruiert die formale Idee, die eher den statischen Charakter als den dynamischen Entwicklungstypus betont, plötzlich mit dem Ausdrucksgehalt.

Der zweite Satz ist ein Variationssatz. Das „Thema“ führt vollkommen weg von der Vorstellung, es handle sich auch hier um „angewandte“ Zwölftontechnik. Schönberg spielt, genau kalkuliert, mit tonalen Elementen. Sogar Moll-Dreiklänge werden eingebaut. Aber diese tonalen Spuren, die zunächst deutlich exponiert werden, tauchen im Laufe der drei Variationen unter, werden überschwemmt von einer Flut kleinster Derivate motivischer Verknüpfungen. Die Schlußcoda zeigt das Thema verwandelt, wie in einer neuen Übersetzung des Beginns.

Der dritte Satz trägt die Überschrift „Intermezzo". Es handelt sich offensichtlich um die Vertretung des Scherzo-Menuetts. Schönberg operiert mit wechselnden metrischen Formen, die sich gegenseitig überlagern und so den Eindruck von Flüchtigkeit erwecken. Hier zeigt sich deutlich, was für ein hervorragender Rhythmiker Schönberg war. Seine komplexen Entdeckungen beim Umgang mit motivischem und thematischem Material überträgt er auch auf die rhythmische Dimension. Fließend wechselt er die Metren, häufig überlagert er sie, so daß nie der Eindruck von Gradlinigkeit entstehen kann. Ist es im ersten Satz das Bodenlose des Ausdrucks, so resultiert aus der musikalischen Gestaltung hier ein schwebendes Losgelöstsein.

Das Rondo beginnt wie eine harmlose Spielmusik. Und doch ist es quasi nur die Umformung des ersten Satzes in eine „fröhliche“ Auskehr, natürlich hie mit Haken und da mit Ösen.

Arnold Schönberg

Streichtrio op. 45 (1946)

Deutlich wird Schönbergs luzide Behandlung der Zwölftontechnik schließlich im Streichtrio op. 45. Ein Werk, dessen Entstehung Hanns Eisler so nacherzählt hat: 

„Schönberg hatte ... 1946 einen tödlichen Herzanfall. Also muß ich sagen: er war tot. Durch eine Spritze in sein Herz wurde er noch einmal zum Leben erweckt, und mit Sauerstoffflaschen und mit sehr guter Pflege hat er immerhin noch sechs Jahre gelebt. Es gibt, wie Sie wissen, diese berühmten Spritzen direkt in das Herz hinein. Als erstes Stück, als Schönberg wieder aufstand von seinem Krankenlager, schrieb er ein Streichtrio, das ich für eine der schönsten Kompositionen halte, die er geschrieben hat - nicht nur ich, die ganze Musikwelt. Als ich Schönberg, der mir das Manuskript zeigte, sagte: 'Aber Herr Schönberg, das ist doch eine ganz grandiose Komposition', sagte er: 'Wissen Sie, ich war so schwach, ich weiß gar nicht, wie ich das geschrieben hab'. Ich hab' irgendwas zusammengschriebn.' Aber er hat mir auch gezeigt, wie jeder Akkord eine Injektion illustriert.“ (Eisler: Fragen Sie mehr über Brecht. Gespräche mit Hans Bunge, Darmstadt 1986, S. 65)

Auch im Streichtrio operiert Schönberg mit Zwölftonreihen, die aber kaum merkbar hinter der Vielzahl von Ideen, die er hier entfaltet, verschwinden. Das einsätzige Stück ist dreiteilig, wobei die Teile untereinander durch Episoden verbunden oder, je nach Sichtweise, getrennt sind. Der dritte Teil greift wieder auf den ersten Teil und seine Episode zurück und nimmt damit formal die Funktion einer Reprise ein. Während man beim dritten Streichquartett noch jedem Satz so etwas wie einen Grundgestus zuschreiben konnte, ist das Streichtrio bunt zusammengeschrieben. Es ist wahrhaft eine Phantasie. Während im dritten Streichquartett jeder Satz seine eigene Ausdrucksgestalt nahezu konsequent beibehält, wechseln hier die musikalischen Gesten von Augenblick zu Augenblick. Wie Splitter zerbrechenden Glases lösen sich die Gesten nacheinander ab. Sie gehen weder streng motivisch-thematisch auseinander hervor noch sind sie wie Versatzstücke aneinandergehängt. Im ersten Teil dauert kaum ein musikalisch zusammenhängendes Partikel länger als drei Takte an. Von Takt zu Takt ändern sich die Spielweisen: Flageolett, spiccato, col legno, tremolo. Die nachfolgende erste Episode führt dann einen lyrischen Tonfall ein. Überraschend taucht dann ein warmer Serenaden-Ton im zweiten Teil auf. Später, in der zweiten Episode wird der Typus des Marsches zitiert. Im letzten Teil werden dann die verschiedenen Tongesten viel näher und ausdauernder zusammengebracht.

Es ist aber nicht eigentlich musikalisch beschreibbar, wie dieses Stück die Kraft seines Zusammenhalts gewinnt. Wahrscheinlich läßt es sich nur so erklären: Jedes einzelnes Teilchen dieses Stücks ist an sich von so bezwingender innerer, gehörter Logik, daß der Zusammenhang sich, kraft Fehlens von Überflüssigem, wie ein großes schillerndes Kristall verstehen läßt. Von welcher Seite aus man es auch betrachtet, ändert es seine Farbe, die Intensität von Reflexen, seine Größe. Es bleibt ein Stück von unglaublicher Unmittelbarkeit und zugleich so rätselhaft wie ein undurchdringliches Orakel.

Benjamin Britten (1913-1976)

Drittes Streichquartett op. 94 (1976)

Benjamin Britten ist nicht bekannt geworden durch seine Streichquartette. Vielmehr stehen im Zentrum seines Schaffens Vokalwerke wie die Oper „Peter Grimes“ oder das „War Requiem“. Die Gründe für das Schattendasein der Quartette liegen nicht in einer etwa mangelnden Qualität begründet. Vielmehr ist Brittens Musik auf den ersten Blick historisch zu spät an der Zeit. Als er sein drittes Streichquartett schrieb - es war übrigens seine letzte vollendete Komposition -, war Schönberg schon fünfundzwanzig Jahre tot. Obwohl Brittens Quartett erheblich jünger ist als die Stücke Schönbergs, klingt es keineswegs „moderner“. Brittens Musiksprache blieb wesentlich der Tonalität verbunden. Bei ihm gibt es ein sehr direktes Zusammenwirken von melodischem und formalem Bau. Wo bei Schönberg die Dimensionen von Rhythmus, Melodik, Polyphonie, Farbe und Form gegeneinander durchlässig sind, ist die musikalische Sprache Brittens stärker geprägt von der Idee des vermittelten Kontrastes: Das Lyrische wird kontrapunktiert mit dem Wilden, das Weite mit dem Dichten, das Hohe mit dem Tiefen. Doch diese „Kontrapunkte“ stellen sich nur selten als unmittelbare Kontraste dar. Sie werden vermittelt auf der Ebene der Melodik, und aus ihr heraus muß er die „zarten Kontraste“ und damit seine musikalische Form immer wieder neu erfinden.

Im ersten Satz, „Duets“ überschrieben, arbeitet Britten mit dem Intervall der großen Sekunde als zentralem musikalischen Impulsgeber. Zweite Violine und Viola umspielen sich gegenseitig im Abstand dieses Intervalls, durchkreuzen ihre Stimmen. Später ist es das Duett von erster Violine und Cello. Der Grundton ist lyrisch, zwanglos. Er wird nur kontrastriert durch den aufgeregteren Mittelteil.

Ganz anders dagegen der zweite Satz: „Ostinato“. Auseinanderspringend exponiert das Quartett zweimal eine charakteristische Figur, die dann, in den Einzelstimmen übernommen, auf- oder absteigend, im Satz ständig präsent bleibt und den Impuls für wilde Skalenläufe in den anderen Stimmen abgibt. Als Kontrast ist in den Satz eine lyrische Episode eigebaut. Erster und zweiter Satz greifen so musikalisch komplementär ineinander.

Der dritte Satz, „Solo", vertritt den langsamen Satz aus der üblichen Satzfolge. Eine hohe, weiträumig vor sich hinfließende Melodie umbestimmter Tonart in der ersten Violine wird von Akkordbrechungen der anderen Streicher grundiert, die dabei vom Cello über die Viola zur zweiten Violine sich ablösen und aus dem tiefen Register in die Höhe der ersten Violine gelangen: Zunächst in As-Dur, dann F-Dur, schließlich A-Dur. In der Mitte des Satzes treffen sich alle Instrumente zu einem flirrenden Arpeggiogewirr über dem die erste Violine rezitativisch und aufgeregt spielt. Die Tonarten werden hier in der anderen Richtung zu As-Dur zurückgeführt. Die erste Violine beschließt mit einer langen Abgesangsszene den Satz über den anderen Streicher, die jetzt mit fahlen Flageolettönen zusammentreffen. Eine Burleske schließt sich an. Wild in der Spielweise, abstrus im Wechsel der Taktarten und mit absurden Klangwirkungen im Trio (die Bratsche spielt schnelle Arpeggien zwischen Steg und Saitenhalter).

Der Schlußsatz gehört wohl zu den schönsten Kompositionen, die Britten je geschrieben hat: „Recitative and Passacaglia". Es ist die Lieblingssprache Brittens - das weite Aussingenlassen über einer einfachen Grundstimme. So einfach wie es klingt, ist es nicht komponiert. Der letzte Satz zieht die Summe der vorhergehenden Sätze: Das Sekundintervall ist die musikalische Substanz des ostinaten Passacaglia-Themas. Das Verhältnis zwischen Passacaglia-Thema und den Melodiestimmen ist polymetrisch und gelegentlich polytonal. Ganz zart und langsam entspinnen sich die einzelnen Melodiestimmen, werden zu einem Chor mit hymnischen Anklängen, werden zurückgenommen und in einen anderen Tonfall übergeleitet um schließlich ein zweites mal anzusetzen und zu verlöschen.

Martin Hufner